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AutorenbildKarl H. Beine

Gewalt in der Pflege

»Die sicheren Orte sind oft unsicher«

Der emeritierte Professor und Arzt Karl Beine, 72, forscht seit Jahrzehnten zu Pflegeskandalen und Patiententötungen. Er ist Autor des Buchs »Tatort Krankenhaus. Ein kaputtes System macht es den Tätern leicht«.



SPIEGEL: Herr Beine, in Ennepetal wurde im Juli ein Pfleger verhaftet, weil er in rund zwei Jahren über 20 schwer demenzkranke Frauen vergewaltigt haben soll. Ein Einzelfall?


Beine: Das glaube ich leider nicht. Und selbst wenn es sich nur um Einzelfälle handeln sollte, müssten sie viel umfassender aufgearbeitet werden. Es gibt kaum einen Ort, an dem Menschen mehr ausgeliefert sein können, als wenn sie demenzkrank in einem Pflegeheim leben.


SPIEGEL: Wie weit verbreitet sind Gewalt und Missbrauch in der Pflege?


Beine: Es existieren dazu keine gesicherten Zahlen. Kein Krankenhaus oder Pflegeheim will mit Gewalt oder Missbrauch in Verbindung gebracht werden. Außerdem wird diese Form der Gewalt tabuisiert. Wir wollen nicht zur Kenntnis nehmen, dass die sogenannten sicheren Orte oft sehr unsicher sind.


SPIEGEL: Haben Sie Belege für Ihre Aussage?


Beine: Ich habe dazu geforscht, durch mein ganzes Berufsleben hindurch sind mir immer wieder Fälle bekannt geworden. Im Dezember 1990 etwa wurde in Gütersloh ein Krankenpfleger verhaftet, der Patienten getötet hatte. Bereits ein halbes Jahr lang hatte es klare Hinweise auf den Mann als Täter gegeben – man hätte also Opfer vermeiden können.


SPIEGEL: Wodurch?


Beine: Wenn Menschen getötet werden, gibt es vorher fast immer Warnzeichen: Zynismus, verrohte Sprache, Taten, die noch unter dem Radar passierten. Wenn da niemand eingreift, ist das eklatantes Führungsversagen. Ich erzähle Ihnen einen anderen Fall.


SPIEGEL: Bitte.


Beine: Hier im Krankenhaus in Hamm fiel eine Krankenschwester auf, weil nach ihren Nachtschichten Patienten teilweise kaum wachzubekommen waren. Die Frau hatte, das konnte dann später nachgewiesen werden, einer 87-jährigen Patientin hoch dosierte Schlafmittel ohne ärztliche Anordnung gespritzt, die Frau hätte sterben können. Der Pflegerin wurde gekündigt, sie wurde freigestellt, die Klinik erstattete Anzeige.


SPIEGEL: Und weiter?


Beine: Der Fall kam vor Gericht. Es gab glaubhafte Aussagen von anderen Pflegekräften, dass diese Medikamentengabe kein Einzelfall gewesen sei. Ausreichend geprüft wurden diese meiner Meinung nach trotz weiterer Indizien nicht. Das Gericht sprach von »Augenblicksversagen« und verurteilte die Pflegerin 2020 zu einer drei­monatigen Bewährungsstrafe. Die Frau sei ein Opfer des Pflegesystems gewesen. Sie bekam nicht einmal ein Berufsverbot.


SPIEGEL: Wofür steht dieser Fall?


Beine: Auch in der Justiz fehlt es an Sensibilisierung für Gewalt in der Pflege. Und: Über die Frau wurde schon monatelang im Kollegenkreis gesprochen. Über sie, nicht mit ihr – auch das ist typisch.


SPIEGEL: Aber die große Mehrheit der Pflegekräfte arbeitet gewaltfrei?


Beine: Daran habe ich keinen Zweifel. Aber dieser Angang des Problems ist falsch, es sind keine Einzelfälle. Noch einmal: Da, wo Arglosigkeit und Hilflosigkeit besonders groß sind und wo diejenigen, die mir begegnen, über jeden Verdacht er­haben sind, ist die Gefahr groß, dass Unrecht geschieht.


SPIEGEL: Was kann helfen?


Beine: Wenn das alle verstehen würden, wäre schon viel ge­holfen. Es braucht Schulungen, qualifizierte Forschung. Und in allen Einrichtungen null Toleranz gegen jede Art von Übergriffigkeit. Es darf kein Makel auf ein Haus fallen, wenn es einen solchen Fall anzeigt.





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