Todesfälle durch Ärzte und Pflegende
- Karl H. Beine
- vor 12 Minuten
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rbb|24: Herr Beine, Sie beschäftigen sich seit langer Zeit mit Tötungen durch Pflegende, durch Ärzte und Ärztinnen. Wie viele Fälle haben Sie sich im Laufe Ihrer langen Laufbahn angesehen?
Karl Beine: Gut untersucht und gut dokumentiert habe ich insgesamt 62 gerichtsbekannte Fälle von Tötungsserien in Kliniken und Heimen. 17 davon waren im deutschen Sprachraum, hauptsächlich in Deutschland. Berufsgruppenbezogen handelt es sich überwiegend um Pflegekräfte, die rechtskräftig verurteilt wurden, in wenigen Fällen um Ärztinnen oder Ärzte.
Wieso wurden Ärzte viel seltener verurteilt?
Warum Ärztinnen oder Ärzte vergleichsweise selten verurteilt wurden, ist aus meiner Sicht und meiner Erfahrung ungeklärt. Die Hypothesen dazu sind spekulativ, sodass ich mich an ihnen auch nicht beteiligen möchte. Ich will nur feststellen: Es gibt deutlich mehr verurteilte Pflegekräfte.
Auch beim aktuellen Fall um den Berliner Palliativarzt fragt man sich: Wie kann es sein, dass ein Arzt, der dem hippokratischen Eid verpflichtet ist, einen Menschen tötet?
Zum Berliner Fall kann ich keine Aussage treffen, da ich mich damit nicht beschäftigt habe. Ich nehme Analysen erst vor, wenn alle gerichtsbekannten Tatsachen gewertet und das Urteil gesprochen wurde. Nach den bisherigen Analysen von Tatmotiven kann man nicht davon ausgehen, dass sie primär aus Mordlust gehandelt haben. Es handelte sich immer um ein Motivbündel.
Was sind die wichtigsten Motive?
Bei forensisch-psychiatrischen Untersuchungen zeigen sich immer eine ausgeprägte Selbstunsicherheit, ein ausgeprägter Narzissmus und eine ausgeprägte Verschlossenheit im Sinne von: "Wir reden nicht über das, was wir tun und was in uns vorgeht, sondern werden mit dem, was uns belastet, selbst fertig." Wie sich dann die Motivlagen im Einzelfall ausgewirkt haben, ist unterschiedlich.
Es gab eine ganze Reihe von Täterinnen und Tätern, die sich in allererster Linie darauf berufen haben, sie hätten das sinnlose Leiden nicht mit ansehen können, sie hätten das sinnlose Leiden beenden wollen. Andere haben die Situationen, in denen sie steckten, nicht ertragen und haben vorsätzlich mit Medikamenten Notfallsituationen ausgelöst, und dann versucht, sich als grandiose Retter zu profilieren.
Was ist diesen Motivbündeln gemeinsam?
Allen gemeinsam ist, dass sie die Ohnmacht, die sie angesichts schwerer und schwersten Leidenszustände empfunden haben, nicht ertragen haben und meinten, sich auf diese Art und Weise befreien zu können.
Warum suchten die Täter keine Hilfe?
Genau das war ihnen nicht möglich. Sie verharrten in dieser Situation, in der sie ständig konfrontiert waren mit neuem Leiden, gegen das sie sich nicht schützen konnten. Sie projizierten das eigene Mitleid, das Selbstmitleid mit der unauflöslichen eigenen Situation in den Patienten und handelten: mal durch das Auslösen von Notfallsituationen, mal durch aktive Tötungshandlungen.
War es denn letztlich ihr Ziel, das eigene Leid zu lindern?
Nach allem, was wir bisher wissen, war das bei der Ersttat das primäre Motivbündel. In aller Regel sank nach der ersten Tat die Hemmschwelle für weitere Tötungen. Viele Täterinnen und Täter sagten, sie hätten im Sinne der Patienten gehandelt, indem sie die in ihren Augen sinnlose Leidenssituation beendeten.
Andere, wie der Pfleger Nils H., Deutschlands berühmtester Fall, sagten, den "Kick" gebraucht zu haben. Nils H. gestand, dass er gern auf dem "Podest" gestanden habe, und dass er auf diese Weise die Ohnmacht für diesen Augenblick überwunden habe.
"Manche Täterinnen und Täter sagten sogar vor Gericht, dass sie das Fehlen von Reaktionen seitens ihrer unmittelbaren Kolleginnen und Kollegen als unausgesprochene Zustimmung für ihr Tun empfunden hätten."
Welche Folgen hatte das für die Täter?
Die Täterin oder der Täter vereinsamt weiter, muss sich weiter verschließen. Im Wissen um das Unrecht seines Tuns, entfernt er sich weiter von Kolleginnen und Kollegen, und von seinem privaten und persönlichen Umfeld. Ich kenne keinen Fall, in dem während des Tatzeitraumes mit Kolleginnen, Kollegen oder Angehörigen darüber gesprochen wurde. Manche Täterinnen und Täter sagten sogar vor Gericht, dass sie das Fehlen von Reaktionen seitens ihrer unmittelbaren Kolleginnen und Kollegen als unausgesprochene Zustimmung für ihr Tun empfunden hätten und sich darüber wunderten, dass niemand sie stoppt.
Wie könnten solche Tötungen besser verhindert werden?
Die beste Möglichkeit ist eine Kombination aus vielen Interventionen. Grundvoraussetzung ist die ausreichende Ausstattung mit qualifiziertem Personal. Personalmangel und dadurch provozierte Hektik erhöhen das Risiko für Fehler - und im Extremfall können solche entsetzlichen Ereignisse passieren.
Personalausstattung ist also ein Faktor. Wir dürfen nicht in jedem Kollegen einen potenziellen Täter sehen, Wir sollten uns aber auch schützen vor blindem kollegialem Vertrauen und vor Korpsgeist. Und wir müssen wissen, dass es solche Tötungsserien gegeben hat. Erforderlich ist außerdem eine Führung, die präsent und gesprächsbereit ist, mit Gespür für Unstimmigkeiten, für Spaltungen im Team, dieoffen dafür ist, auch unangenehme Themen mit einzelnen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern anzusprechen.
Und es gibt die Pflicht, die Patientensicherheit allemal höher zu stellen als den befürchteten Skandal, die befürchteten negativen Schlagzeilen. In vielen Fällen haben die jeweiligen Geschäftsführungen aus Sorge um wirtschaftliche Folgen für ihre Einrichtung, das Informieren von Kriminalpolizei oder der Staatsanwaltschaft verhindert.
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